Was auf den Plattformen passiert und welche politische Wirkung das hat, ist ein großes, im Grunde nicht überschaubares Thema! Wie ist Ihr Umgang damit?
Ich bin in einer Forschungsinitiative an der Universität Trier, DigitS EU, in der wir mit Leuten aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zusammenarbeiten. Im Kern stellen wir uns die Frage, welchen Einfluss die aktuellen EU-Digital-Rechtsakte, etwa der Digital Services Act und der Digital Markets Act, auf die Meinungsfreiheit und Demokratie nehmen können.
Einer Ihrer Kollegen spricht von der „Hyperpolitik“, die mit Social Media entstünde. Was meint er damit?
Es gibt viele hochgejazzte Debatten, die aber auch schnell wieder vorbei sind. Die Politik lässt sich zum Teil jagen von Themen, die in Social Media gepusht werden. Gerade die Parteien am rechten Rand verstehen es sehr gut, mit dieser Aufmerksamkeitsökonomie umzugehen. Das Problem ist, dass wichtige Debatten zugunsten weniger relevanter Themen verdrängt werden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Politik, aber auch die Medien, die Plattform X mit der Wirklichkeit verwechseln. Nur weil auf X eine bestimmte Debatte geführt wird, heißt das nicht, dass es eine gesamtgesellschaftliche Debatte ist. Die Algorithmen privilegieren bestimmte Aufreger und verhelfen ihnen zu größerer Aufmerksamkeit. Und das hat aus meiner Sicht Einfluss auf unsere Debattenführung. Es gäbe heute genug, worüber man auch wirklich streiten müsste – aber wir zerhacken uns darüber, ob man auf dem Oktoberfest kiffen darf oder nicht.
Was bedeutet es für die Demokratie, wenn die Leute das Gefühl haben, der Staat kann sie vor solchen Attacken nicht schützen und ist vor allem gegenüber den großen Internet-Plattformen machtlos?
Es gibt keinen absoluten Meinungsschutz, es gibt keinen absoluten Persönlichkeitsschutz. Beide Seiten werden Einschränkungen hinnehmen müssen. Daher kann ein Beitrag auf einer Plattform auch nicht einfach gesperrt werden – es bedarf immer einer Prüfung im Einzelfall. Insbesondere mit dem Digital Services Act hat der EU Gesetzgeber aber einen gesetzlichen Rahmen gesteckt, der die Plattformen stärker in die Verantwortung nimmt.
Die Kontrolle von Plattformen ist also kein „Selbstgänger“ für die Demokratie?
Nein, wir müssen uns immer die Frage stellen: Wollen wir überhaupt Kontrolle bzw. wie stark wollen wir Kontrolle? Liberale würden erst mal sagen, es braucht eine möglichst absolute Meinungsfreiheit. Es reicht ein Blick in die USA oder nach Großbritannien, die ein deutlich weiteres Verständnis von Meinungsfreiheit haben. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir den Persönlichkeitsschutz nicht zu gering gewichten dürfen. Denn wenn wir Diskussionen ohne Regeln laufen lassen, dann setzt sich das Recht des Stärkeren durch. Eine grenzenlose Debatte führt dazu, dass nur die „Härtesten“ dableiben und all diejenigen, die nicht bereit sind, sich Beleidigungen, Anfeindungen und Ähnliches anzuhören, die Debatte verlassen. Deren Beiträge fehlen dann. Doch jeder staatliche Eingriff in die Meinungsfreiheit ist sensibel: Es darf nicht dazu führen, dass Machtkritik unterbunden wird. Deshalb kann das Ziel nur „demokratische Kontrolle“ lauten.
Was verlangt „demokratische Kontrolle“ der Bevölkerung ab, das kann und soll ja die Politik nicht alleine leisten?
Wir müssen uns fragen, was wir als Gesamtgesellschaft bereit sind, dafür zu bezahlen, um Hass und Hetze im Netz zu reduzieren. Sind wir bereit, die Strafverfolgungsbehörden entsprechend auszustatten? Denn Strafverfolgung im Internet ist nicht einfach. Wir brauchen ausreichend Personal bei der Polizei, wir brauchen spezialisierte Staatsanwälte und Staatsanwältinnen. Auch müssen Grenzüberschreitungen auch von Nutzerinnen und Nutzern gemeldet werden. Daneben sind auch die Plattformen verpflichtet, bestimmte Straftaten zu melden und ein wirksames Moderationssystem einzuführen, um Konflikte auf Plattformen beizulegen. Ich halte es für absolut richtig, dass man hier die Plattformen stärker in die Pflicht nimmt – aber auch da stellt sich die politische Frage: Wie weit sollen Plattformen hierfür KI-Systeme einsetzen dürfen? Wie stellen wir sicher, dass diese nicht-diskriminierend agieren? Wie finden wir zu diesen Themen einen gesellschaftlichen Konsens? Beispiel Urheberrecht: Gegen den Einsatz von Filtertechnologie sind damals viele junge Menschen auf die Straße gegangen – und am Ende hat man einen Kompromiss gefunden.
Die großen Plattformen sitzen nicht in Europa, sondern in den USA.
… und damit kommen wir rechtspolitisch in ganz schwierige Bereiche. Welches Persönlichkeitsrecht ist überhaupt anwendbar? Welches Verständnis von Meinungsfreiheit soll das maßgebliche sein? Ist es das Verständnis, das wir in Deutschland haben oder ist es das Verständnis, das wir in Ungarn haben? Und in den großen regulatorischen Fragen, ist das europäische System maßgeblich oder ist das US-amerikanische?
Viele denken, Europa ist ein Zwerg und kann in der Welt nicht viel ausrichten.
Sicher ist die EU mit ihren rund 500 Mio. Einwohnern im Welt-Maßstab nicht besonders groß. Aber sie ist ein bedeutender wirtschaftlicher Markt – für die Plattformen sind vor allem die Werbekunden interessant.
Wir haben schon bei der Datenschutzgrundverordnung gesehen, dass wir es schaffen, globale Player an die Kette zu nehmen. Die EU tritt im Moment absolut selbstbewusst auf. Sie hat gerade gegen TikTok ein Verfahren eingeleitet, weil die Plattform möglicherweise den Jugendschutz vernachlässigt. Da mit dem DSA hohe Bußgelder drohen, wird TikTok hier reagieren. Elon Musk hat zwar angekündigt, wenn die neuen Regeln greifen, zieht er sich aus der EU zurück. Dann gäbe es kein X mehr in der EU. Das will ich erst mal sehen, ob er sich das traut.
Für das Wahljahr 2024 scheinen die Maßnahmen aber alle etwas zu spät zu kommen …
Dass der Act bis dahin volle Wirkung entfaltet, glaube ich auch nicht. Es ist ein langer Weg, ja. Aber ist die gesellschaftliche Debatte nicht immer schon ein langer Weg gewesen? Die EU hat den Kampf aufgenommen und Regulierungen geschaffen. Die sind sicher nicht in allem perfekt. Aber das ist der übliche Prozess im Recht und in einer demokratischen Gesellschaft. Oft ist es einfach ein zu hoher Anspruch, der uns verleitet, alles schlecht zu reden. Ich glaube, da ist extrem viel Gutes drin – und sehe keinen Grund für Pessimismus.
Max Dregelies
34, ist Habilitand und Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Zivilrecht, Recht der Informationsgesellschaft und des Geistigen Eigentums von Prof. Dr. Benjamin Raue. Er forscht u. a. zur Regulierung von Online-Plattformen, etwa, wie Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz im digitalen Raum in Einklang gebracht werden können. In der interdisziplinären Forschungsinitiative DigitS EU forscht er, wie Desinformationen auf Online-Plattformen verhindert werden können.